1. Minerva

    Minerva Head of Frustblunzn
    VIP

    Kindern sollst du Wurzeln geben, Teenagern Flügel.

    So in etwa lautet die Zusammenfassung aller jemals geschriebener Erziehungsratgeber in der netten Form.

    Die ungeschönte Wahrheit ist:

    Kindern sollst du Wurzeln geben, wobei das Graben langwierig und mühsam ist. Teenagern sollst du mit einer stumpfen Nadel Flügel stricken, die sie uncool finden und sie werden dir langatmig erklären, dass du von Flügeln sowieso keine Ahnung hast.

    Das Loch für die Wurzeln grub ich in den letzten Jahren, pflanzte meine Kindelein ein, stampfte den Boden fest, goss sie regelmäßig, vergaß auch den Dünger nicht und band sie an Stangen, damit sie schön gerade wachsen würden.

    Nun bin ich mit den Flügeln zugange. Es ist nicht einfach, mit Händen, die vom Graben schwielig geworden sind, aus dem dünnen Garn der Zuversicht und des Vertrauens ein Paar anständige Flüge zu stricken. Ewig drohen die Nadeln zu brechen, das Garn zu reißen und manchmal fürchte ich, dass mir das Garn sogar ausgeht.

    Und so kommt es, dass ich dastehe mit meinen lausigen Flügeln: die Maschen ungleichmäßig, Knoten wegen der gerissenen Fäden und wenn man genau hinschaut, finden sich auch einige Fehler im Muster. Ich halte sie den Kindern an, will schauen, ob sie passen und bekommen zu hören, dass Lieschen Müller viel tollere Flügel hat und wie sehr die Stange, an die es angebunden ist, drückt.

    Es kommt der Tag, da sind die Flügel fertig. Die besten, die ich herzustellen vermochte. Sie sitzen dem Kind etwas zu locker, aber ich bin mir sicher, es wird hineinwachsen. Ich hoffe das.

    Ich ziehe den Stange aus dem Beet und freue mich, dass das Kind nicht in sich zusammenfällt, sondern groß und stark geworden ist.

    Das Kind testet seine Flügel, wedelt noch etwas ungelenk herum und macht seine ersten Hüpfer.

    Derweil stehe ich da, schaue zu und stricke bereits am nächsten Paar Flügel.
     
    Minerva, 18. April 2014
    , Zuletzt bearbeitet: 18. April 2014
  2. weibilein

    weibilein Teilnehmer/in

    :love:So schön geschrieben!
    Ich habe gerade auch angefangen, Flügel zu stricken! Schwer wird es, wenn du auch noch Eltern hast, die gemeinsam mit dem Teenie versuchen, diese wieder abzureißen!:( Ich stricke weiter, bis die Finger wund sind!:)
     
  3. jo-jo

    jo-jo ** Kopf raucht **

    Wie lange hab ich nur die Fehler gesehen, die meine Mama in meine Flügel gestrickt hat. Die Löcher, die Knoten, da was zu viel, dort was zu wenig....
    Erst nach und nach entdeckte ich die vielen kleinen Details, die sie mühevoll eingearbeitet hat, wie sehr sie sich bemüht hat, mir MEIN Muster zu stricken, die richtigen Farben zu finden, diese zarten Fäden zu starken Flügeln zu verarbeiten, die mich bis heute sicher durch mein Leben tragen.

    Ich sag an dieser Stelle: Danke Mama, für die Mühe, die Du in meine Flügel gesteckt hast, es sind die besten, die ich mir vorstellen kann.
     
  4. Vollmondfrau

    Vollmondfrau ...sammelt sich.
    VIP

    Minerva, das erste mal, dass du mich zum weinen gebracht hast....
    dankeschoen.
     
  5. Asterix

    Asterix Der Weg ist das Ziel...
    VIP

    Bei deinen Worten sehe ich wieder die Meisenfamilie vor mir, die bei uns ihre Jungen großgezogen hat und denen wir zusehen durften, flügge zu werden......die Alten haben sich so bemüht, haben ein gut geschütztes Nest gebaut (unglaublicherweise in unseren zus.gerollten, aufgestellten Rasenteppich!) und wir sahen sie täglich hin und herfliege und haben mitbekommen, wie die 4 Jungen aus den Eiern geschlüpft sind.
    Auch wieder interessant war, dass sie das Nest bei uns auf der Loggia gebaut haben, obwohl wir damals 1 Katze hatten, die ja oft dort zu finden war....doch gut geschützt in der Rolle (wir fanden gsd rechtzeitig heraus, dass ca. in 1m Tiefe der Rolle ein Nest war, bevor wir es durchs Aufrollen zerstört hätten) geschah ihnen nichts - die Vogeleltern vertrauten uns Menschen irgendwo doch und wir passten auf, dass die Katze nicht unbeaufsichtigt draußen war, weil wir ja nicht wussten, wann es mit den kleinen Piepmätzen soweit war, dass sie ausfliegen würden.

    So haben wir mitgefiebert und versucht sie nicht viel zu stören dabei.
    Am 1.Mai dann war es soweit - zum Glück hatte ich frei und wir konnten miterleben, wie es vonstatten ging. (durch die Glasscheibe, Katze drinnen).
    Einer nach dem Anderen kam auf dem Teppichrand der Rolle zum Vorschein und wurde von den Eltern angefeuert, seine Flugkünste zu versuchen.
    Einer wagte es, und flog sogleich auf einen STuhl. Der Nächste wagte es...und plumpste auf den Boden..... dort blieb er wie versteinert sitzen.....sehr lange. Die Eltern piepsten ihn an, er solle doch fliegen versuchen....mein Mann rotierte drinnen und wollte den Kleinen schon mit einer Schaufel raufheben, damit er von weiter oben besser "abfliegen" konnte...... ich hielt ihn zurück - denn er musste da selber durch und die Eltern und Geschwister wären sicher weggeflogen, hätten wir eingegriffen.
    Und dann, als mein Mann schon ganz deprimiert war, weil sich der kleine Kerl nicht rührte.....kam Leben in ihn und er nahm wohl allen Mut zusammen und versuchte auf die Brüstung zu fliegen.
    Beim 2. Anlauf hat er es geschafft und saß mit seiner Familie piepsend und wohl sehr erleichtert dort oben....:hug:
    Dann kam der Moment, wo auch wir Zuschauer etwas feuchte Augen bekamen.......sie flogen auf den gegenüberliegenden Baum rüber, wenige Meter. Sie schaffte es alle und dann flogen viele Meisen kreuz und quer und piepsend vor unseren Fenstern herum, in eine Freiheit, die Freude und auch manchmal Leid bedeutete.

    Ich denke, ihr versteht, was ich mit dieser wahren Geschichte sagen will.......da gibt es viele Parallelen zu uns Menschen und unseren flügge werdenden Kindern......loslassen, anfeuern, unterstützen, aber schließlich müssen sie den letzten Schritt selber wagen.......

    :wave: lg Asterix
     
  6. Manu11111

    Manu11111 Teilnehmer/in




    Wow, das ist echt schön geschrieben. Finde ich sehr berührend.
     
  7. Steinfrau

    Steinfrau Teilnehmer/in

    Ich kann nur sagen SCHÖN und wahr:):):):love:
     
  8. himbeersturm

    himbeersturm Teilnehmer/in

    Mit den - fiktiven - Worten meiner 17jährigen: urschön ... ;)
     
  9. Lilli2

    Lilli2 Teilnehmer/in

    Ich denke, jetzt weiß ich, warum ich deiner Argumentation im anderen Thread so schlecht folgen kann.

    Wir dürften gänzlich unterschiedliche Ansichten haben über das eigene Verständnis, wie man seine Kinder in ihrem Leben begleitet.
     
  10. Minerva

    Minerva Head of Frustblunzn
    VIP

    Nämlich?
     
  11. Lilli2

    Lilli2 Teilnehmer/in

    Kurz und grob gestrickt gesagt:

    ich bin davon überzeugt, dass Kinder ihre Fähigkeiten selber mitbringen.
    daher brauche ich ihnen auch nicht mühevoll Flügel zu stricken oder sie aufopfernd zum Wurzeln zu bringen - das schaffen sie mit meiner respektvollen Begleitung schon selber.

    Und darum ging es mir beim anderen Thread:
    ich vermisse dort den Respekt und die Achtung vor dem Kind

    klingt nun etwas überzogen - aber ja, ich habe auch vor einem winzigen Säugling Hochachtung und würde niemals meine Bedürfnisse über seine stellen und ihn dafür auch noch instrumentalisieren
     
  12. Minerva

    Minerva Head of Frustblunzn
    VIP

    Ich verstehe - meiner Meinung nach brauchen Kinder Anleitung und jemanden, der ihnen Grenzen aufzeigt und diese konsequent umsetzt.

    Natürlich habe ich Recht :D

    Ich glaube tatsächlich, dass das Kind in besagtem anderen Faden nicht instrumentalisiert wurde - schwierig das mit wenigen Worten zu beschreiben. Gehört aber auch in den anderen Faden.
     
  13. Lilli2

    Lilli2 Teilnehmer/in

    Da sind wir komplett einer Meinung.

    Scheinbar kann man diese eine Meinung komplett unterschiedlich umsetzen. :)
     

Diese Seite empfehlen